Fahrradfahren

In Europa gibt es, grob eingeteilt, drei Klassen der Fortbewegung: zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto. Hingegen gibt es in Amerika eigentlich nur eine: das Auto. Fußgänger außerhalb der Innenstadt werden misstrauisch von den Vorbeifahrenden angesehen, manchmal auch von der Polizei im Auto als potenzielle Übeltäter angesprochen, und Fahrradfahren gibt es eigentlich nur als bunte Rennräder oder als aufgedonnerte Mountainbikes.

Autofahrer sind nun überall gleich: es gibt die Trödler, die in Gedanken versunken so vor sich hinfahren und nicht merken, dass hinter ihnen der Verkehr zusammenbricht, oder die am Rotlicht stehen und den Unterschied zu grün nicht begreifen. Es gibt die Pedanten, die auf der Landstraße mit 80 an das Ortsschild heranbrausen und dann scharf abbremsen, weil man im Ort nur 50 fahren darf, sodass der Hintermann in Gefahr gerät, oder die einen auf der Autobahn überholen und dann sofort auf die äußerste rechte Spur schwenken, um einem pädagogisch zu zeigen, dass man nicht auf der mittleren Spur mit 140 dahintrödeln darf. Und dann gibt es die Aggressiven – die kennt man ja. Aber gut, es sind halt alles Autofahrer, die sowieso die Umwelt verpesten und am Waldsterben schuld sind, die Energie vergeuden und den hohen Ölpreis zu vertreten haben – was soll man von denen schon erwarten?

Aber die Fahrradfahrer – das sind doch die Braven, die Lieben, die Fürsorglichen, die sich um die Umwelt und die Mitmenschen und die Natur und den Frieden sorgen usw. usw. – oder etwa nicht? Man hat so seine Zweifel: wer ist noch nicht durch aggressives Klingeln und durch grobe Bemerkungen vom rosa bepflasterten Fahrradweg neben dem Bürgersteig verscheucht worden, auf dem er an der Bushaltestelle versehendlich stand? Wer hat noch nicht sich, sein Kind oder seine Oma durch einen schnellen Sprung zur Seite vor einem dummen Radfahrer gerettet, der gesetzeswidrig auf dem Bürgersteig in der falschen Richtung fuhr? Und dann sind da die gemütlichen Radfahrer auf der Landstraße, die zu zweit nebeneinander, fröhlich plaudernd, den Ausflugsverkehr zum Erliegen bringen; die städtischen Rennfahrer, die am liebsten bei Rot über die Kreuzung rasen; die Einkaufsfahrer, die im dicksten Fußgängertrubel ihr Rad mit Einkaufskorb durch die Mengen drängeln und schubsen und schieben? Und dann natürlich die Ferien-Ausflugs-Gruppen-Tourenfahrer, die in hautengen grellfarbigen Plastikanzügen über ihren müden Rentnergliedern in riesigen Horden über die Landstraßen trödeln, nicht nur in Mallorca, so dass kein Auto mehr an ihnen vorbeikommt – von Umwelt oder Frieden keine Spur.

Warum gibt es diesen Fahrradfahrerblick, mit dem man als Autofahrer oder auch als Fußgänger angeschaut wird, beschuldigend, anklagend, vorwurfsvoll, ablehnend – irgendwie vernichtend. Er erinnert einen an die ähnlichen Blicke von Nichtrauchern, wenn man sich eine Zigarette anzündet, von Mineralwassertrinkenden, wenn man sich zum Lunch ein Viertel Wein bestellt, oder auch von Kirchgängern in Amerika, wenn man nicht zu ihnen in den Gottesdienst kommt – irgendwie sind das alles Gläubige, die in einem den Heiden sehen, dessen Bekehrung sinnlos erscheint.

Ein unerforschliches Rätsel ist auch die Fähigkeit der Mitglieder der verschiedenen Verkehrsklassen, sich innerhalb von Sekunden von einer Spezies auf die andere umzuprogrammieren. Aus einem überzeugten Fußgänger, der am Sonntag beim Spaziergang völlig ohne Verständnis auf die rüden Autofahrer herabblickt, wird am Montag wieder ein Verkehrsteilnehmer in seinem Auto, der die beim Wechsel auf Rot noch auf der Straße befindlichen Fußgänger grob verscheucht, und aus dem gestrigen Radfahrer, der mit Freude das Rotlicht mischtet, wird heute ein harmloser Fußgänger, der brav an der Kreuzung wartet, bis er Grün bekommt, obwohl weit und breit kein Auto, noch nicht einmal ein Fahrrad, zu sehen ist. Eigenartige Metamorphosen, noch dazu völlig reversibel…..

Die Fußgänger kommen bei dieser Betrachtung noch relativ günstig davon; man will ja nicht zu pedantisch sein und beklagen, dass sie beim Einkaufen auf dem Markt drängeln und einem diese vermaledeiten Einkaufswägelchen gegen die Beine schieben – man hat sich schon daran gewöhnt.

Aber halt: auch der Fußgänger mutiert zu einem anderen Wesen, sobald er seinen Jogginganzug angelegt hat. Auf einmal ist er etwas ganz anderes, irgendwie mehr wie ein Radfahrer: er rempelt einen brutal an, wenn man ihm auf dem Spazierweg am See nicht seine anscheinend gottgegebene Vorfahrt einräumt, und er blickt auf einen normalen Fußgänger genauso herab wie eben der Auto- oder Radfahrer. Nun weiß man ja, dass Kleider Leute machen – aber ein Jogginganzug? Das ist nun doch beileibe kein Kleid!

Es muss doch etwas ganz anderes sein; es muss wohl mit der Erbmasse der Germanen zusammenhängen, in der das Gen „Recht haben“ schon immer das Gen „Rücksicht“ verdrängt hat. Aber nach Darwin ist ja der Anlass für eine Mutation die Anpassung an die Umwelt, und man kann nichts dagegen sagen, denn dies dient ja dem Überleben der Spezies – aber eben nur in der Umwelt Deutschland, und wohl nicht in Amerika…